Péter Nádas, Parallelgeschichten

(Erschienen 2005, Übersetzung von Christina Viragh)

Der Titel ist Programm, auf vielerlei Art und Weise.
Als Konstruktionsprinzip: Es werden Geschichten parallel erzählt, aus verschiedenen Perspektiven, in unterschiedlichen Erzählhaltungen, von und über verschiedene Personen, an unterschiedlichen Orten in Deutschland und Ungarn und zu verschiedenen Zeiten des 20. Jahrhunderts.
Als Topos: Menschen leben und denken sich parallel, durchleben ihre Erinnerung parallel zu ihrer Gegenwart und leben durch ihre Erinnerung so, wie sie eben in der Gegenwart leben.
Als Motiv: Menschen sind körperlich, ihre Körper leben parallel zu ihrem Bewusstsein mit Vehemenz und Vielgestaltigkeit, sei es hetero- oder homosexuell.
Heraus kommt ein vielstimmiger innerer Monolog, sowohl der mehrerer Einzelpersonen als auch der einer Vielzahl von Personen, der, äußerst kunstvoll konstruiert, eine genussvolle Fortsetzung der Tradition der literarischen Großromane darstellt. Und diese fortschreibt: Denn durch die radikale, oftmals geradezu schonungslose Einbeziehung aller Aspekte der körperlichen Erscheinungen menschlicher Existenz erschreibt Nádas dem Genre des Romans eine Dimension, die dieser bisher größtenteils den literarischen Schmuddelecken und Absonderlichkeiten überlassen hat.
Und die Liebe, irgendwo muss sie doch ihren Platz haben, aber wo nur?
Nádas ist ein Meister des konkretisierenden sprachlichen Ausdrucks, er beschreibt das Lichterflirren der sinkenden Sonne auf dem Fluss so, dass sich dem Leser die glückhafte Stimmung dieses Abends offenbart, und die Gewissensqualen einer Überlebenden der Waggontransporte ins KZ Buchenwald so, dass sich einem der Magen herumdreht.
In seine Schilderung des menschlichen Lebens bezieht er auch die körperlichen und sexuellen Aspekte und Funktionen ein, und dies auf so detailreiche, abstoßende, verlockende, insgesamt also faszinierende Art und Weise, wie es diese Funktionen selbst an sich haben können. Wohlgemerkt: auch derb, drastisch und ohne Rücksicht auf die Grenzen des gutbürgerlichen Geschmacks, aber nicht pornografisch. Sei es ein scheinbar endloser Beischlaf oder die nicht minder umfangreiche und eindringliche homosexuelle Initiation im nächtlichen Budapester Schwulenpark, dies ist keine Sensationshascherei auf Seiten des Autors, sondern ist nur konsequent seinem Prinzip verpflichtet, nichts zu verschweigen oder unausgesprochen zu lassen.
Ob dieser Versuch überhaupt gelingen kann, darum geht es diesem Werk. Dass die Parallelen der Geschichten, der Historien der Personen, der Historie sich irgendwann treffen, wird negativ beschieden. Vielleicht im Unendlichen, aber nach vielen Jahren Schreibarbeit und 1700 Seiten hört der Autor auf, ohne dass irgendeine der Geschichten beendet oder irgendein Kreis geschlossen wurde. Es kann nicht gelingen, das Leben zwischen zwei Buchdeckel zu pressen. Aber zwischen den Buchdeckeln passiert Fantastisches: Irgendwann wird dieser Roman zu Welt.

„Was war das für eine launische Verkettung, er verstand es nicht, verstand auch nicht, was Zufall, was Glück bedeuten. (…) Er konnte es von jeder Seite betrachten, was höchstens ermüdend war, aber nie zu einem Ende führte. (…) Wenn er einmal das geheime System in der Tiefe durchschaute, die Verkettungen, die Struktur oder was immer, das, wodurch die Kenntnis der wichtigen Dinge für einige verdeckt bleibt, während sie für andere schamlos aufgedeckt wird, beziehungsweise die Dynamik von Verdecken und Aufdecken, dann wüsste er etwas, würde etwas verstehen. Die Welt ist unauslotbar in ihren Glücksfällen. Na ja, auch in ihren unglücklichen Kombinationen, in allem, was sie nicht zeigt.“
„Die Geschichte der Seele und die der gesellschaftlichen Beziehungen berühren sich kaum, sie treten selten in eine unmittelbare Beziehung, schreiben nebeneinander zwei verschiedene Geschichten. Man muss das Ganze fortwährend schön auseinanderhalten. Und tut das auch fortwährend. Das war ihre feste Überzeugung.“
„Ich kann nicht davon ausgehen, dass der Mensch einen Charakter oder irgendwelche Eigenschaften hat. Ich muss seiner Gestalt folgen, für mich ist das seine einzige Eigenschaft, seine Oberfläche, seine Krümmungen, seine Glieder, seine Wölbungen. Da ist nur Fleisch, Fleisch und Form. (…) Deswegen sind die Menschen flexibel, weißt du. Was immer geschieht, sie müssen anpassungsfähig bleiben. Nichts kann sie zwingen, oder jedenfalls spüren sie keinen moralischen Zwang. So entsteht ihr glückliches Chaos. Mach du nicht so große Augen, es ist so, ganz allgemein. Du redest, als sei alles schon im Voraus festgelegt, und man könnte es ordnen. Nichts ist festgelegt.“
„Das wäre an sich nicht so interessant, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, dessen Denken und Benehmen vom dauernden Wunsch nach Kopulation durchdrungen ist, mit sämtlichen daran haftenden Phantasien, dachte sie, … interessant ist vielmehr, dass für den Menschen Bild, Phantasie oder Erinnerung wahrscheinlich viel wichtiger sind als der Akt selbst. Dieses Phänomen macht deutlich, wie wenig der reale Akt individualisierbar ist. … Ein jeder strebt danach, den Geschlechtsakt zu etwas Individuellem zu machen, sonst käme er nicht zur vollen Lust, und ein jeder erleidet damit eine Schlappe, denn der Akt selbst existiert ja nur in der Gegenseitigkeit. (…) In dieser Frage täuschen sich die Religionen und Mythologien überhaupt nicht, fuhr sie laut fort, dein eigenes Fleisch ist unpersönlich, nur die Vorstellung ist persönlich.“
„Madzar hätte wirklich nicht sagen können, wie der magische Augenblick zustande kommt, der weder vom Zufall belastet noch vom unglaublichen Gewicht der Notwendigkeit plattgedrückt ist, auch wenn beides eine Rolle spielt.“
„Als wäre er, in seinem Körper eingeschlossen, gezwungen gewesen, gleichzeitig in mehreren, parallel funktionierenden Welten zu leben, und er hätte diese Welten jetzt vor lauter Spannung verwechselt. (…) Es war ein kurzes Glück, das man nie fasst, außer wenn man sich plötzlich daran erinnert. Wenn er zuweilen auch glücklich war, dann wohl auf tiefere Art, ohne jegliches Drama, aber nie mehr so dunkel und leichthin.“
„In solchen Momenten bleibt man an der Schöpfung haften, als wäre man an die Ewigkeit genagelt.“
„Wer weiß schon, was man dafür tun kann, was man besser lassen soll. Wo doch die reichen Stunden Gnadenakte sind.“
„Die physischen Freuden sind ja doch nicht alles. Er versuchte vergeblich, sich mit diesem Unsinn zu beruhigen. Natürlich sind sie alles. Nach einem guten Fick fühlt man sich im Universum zu Hause. Und überhaupt, wie sollte man sie denn von den seelischen Freuden trennen, oder von sonst irgendwas.“
„Nur bekloppte Menschen glauben, die Freiheit sei etwas Gutes, Erstrebenswertes. Sie ist vielmehr notwendig gegeben, man kann sie nicht umgehen.“
„Eigentlich wusste er schon alles, was über die Freuden und Leiden der Existenz wissenswert ist. Aber er hielt dieses Wissen für eine Verwirrung, er hatte ja keine Ahnung, dass er damit nicht allein war, dass es Allgemeingut ist.“

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Datum: Mittwoch, 20. Juni 2012 23:28
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