Eugène Sue, Die Geheimnisse von Paris

(Erschienen 1842/43, Übersetzung von Helmut Kossodo)

Räuberpistole? Thesenroman? Sozialreformerische Streitschrift? Jedenfalls eher als historisches Zeugnis denn als literarisches Glanzstück zu lesen ist dieser Roman, der als Fortsetzungsroman 1842-1843 in einer Tageszeitung erschien. Literarisch-sprachlich sind diese 2000 Seiten vorwiegend ein Appell und getragen von aufklärerischem und reformerischem Eifer. Die Aufrichtigkeit des Unterfangens, die Ernsthaftigkeit der vorgeschlagenen Reformen und vor allem die Dringlichkeit des Anliegens werden so offen und so häufig ausgesprochen, dass der Verdacht aufkommen mag, das Geschilderte diene nur zur Illustration der vorgetragenen Thesen. Um den ahnungslosen und unwissenden, doch durchaus gutherzigen Teilen des Bürgertums und des Adels die Augen, die Herzen und schließlich die Börse zu öffnen, galt es Sue als probates Mittel, nicht nur „das Elend in seinem ganzen Schrecken“ zu zeigen, sondern es auch sprachlich noch zu verdoppeln („Ach! Mein Herr … welches Bild! … und keine Hoffnung!“). Es wird moralisiert und gewertet, das Buch strotzt vor affektiven, gefühlsbetonten Ausbrüchen und Schilderungen und ist gespickt mit Superlativen, die es dem Autor bisweilen unmöglich machen, noch eine weitere Steigerung hinzuzufügen, so dass er an etlichen Stellen Zuflucht nehmen muss zu der Wendung, dass etwas sich mit Worten nicht beschreiben lasse.

Dieser geballte Einsatz, um Rührung und Mitgefühl zu erzielen, mag dem heutigen Leser naiv, durchschaubar und mitunter ermüdend erscheinen, das zeitgenössische Publikum schien sich daran nicht zu stören, der Roman wurde zum Bestseller und die Einwände und Kritiken, auf die Sue innerhalb des Werkes eingeht, beziehen sich sämtlich auf geschilderte soziale und politische Um- und Missstände.

Es ist also angeraten, bei der Lektüre sozusagen historische Milde walten zu lassen. Die Belohnung dafür ist vielfältig:

  • eine Schilderung aus erster Hand der sozialen Gegebenheiten in Paris vor 170 Jahren
  • eine publikumswirksam gewordene und daher beispielhafte Darstellung zentraler Forderungen der sozialreformerischen Bewegung im damaligen Frankreich: Reform des Gesundheitswesens, der Justiz, des Strafrechts und Strafvollzugs, Bekämpfung des Zinswuchers durch ‚Mikrokredite’, bezahlbare Mieten, gerechte Entlohnung, Altersversorgung, usw. usw.
  • eine zeitgemäß unentschiedene psychologische Darstellung zwischen phrenologischer Charakterisierung und sozial-pädagogischem Eifer
  • last not least: Das Buch ist spannend! Die Vielzahl der Personen und Milieus, ihre Verwobenheit mit- und ineinander, geschickt konstruierte parallele Handlungsstränge und immer neue Intrigen und Wendungen erzeugen Spannung und sorgen dafür, dass man Anteil nimmt am Schicksal von historisch so fernen und psychologisch so anderen Personen.

Noch zwei einigermaßen unzulässige Bemerkungen:

  1. Anhand der Person des Fürsten Rudolf stellt sich die Assoziation an „Batman“ ein, der, da Amerikaner, natürlich kein Aristokrat, aber ebenfalls immens reich, edel und hochherzig ist und wie der Fürst inkognito in den finstersten Gassen den Kampf gegen Verbrechen, Korruption und Verderbtheit aufnimmt. Beide scheuen sich nicht, Ermittler, Richter und Strafvollzieher in einer Person zu sein, was dadurch gerechtfertigt wird, dass sie für „das Gute“ einstehen, was sich in ihren sozialen Stiftungen manifestiert (Musterfarm, Waisenhaus, Armenbank). – Nun ja, wollen wir den Vergleich nicht überstrapazieren. Festzuhalten ist jedenfalls, dass Sue an der französischen Deputiertenkammer kein gutes Haar lässt und stattdessen als Heilsbringer auf einen aufgeklärten, wohlwollenden Herrscher setzt.
  2. Die zweite unzulässige Bemerkung betrifft die Heldin: Eine ähnlich zerfleischende moralische Selbstanklage der unschuldig „gefallenen“ Heldin ist mir erst kürzlich bei Thomas Hardy’s „Tess of the d’Urbervilles“ begegnet. (Dieser Roman ist ca. 50 Jahre später und in England erschienen, und vielleicht ergeben sich die Parallelen nur aufgrund meiner Lektüreabfolge, dennoch…) Zwei signifikante Unterschiede allerdings bestehen: Tess würde die Verzeihung und Ent-Schuldigung durch ihren geliebten Ehemann ausreichen, während die Schallerin sich in dieser Welt keine Entlastung von ihrer moralischen ‚Schuld’ erhofft. Diese Verweltlichung vom jenseitigen Gottesbezug zum diesseitigen Weltbezug setzt sich fort, indem Tess selbst ihre Rache vollzieht, während die Schallerin an gebrochenem Herzen stirbt. – Sterben allerdings müssen beide Heldinnen.
Tags » , «

Autor:
Datum: Mittwoch, 22. Mai 2013 20:05
Trackback: Trackback-URL Themengebiet: Lesen

Feed zum Beitrag: RSS 2.0 Diesen Beitrag kommentieren

Kommentar abgeben