Gustave Flaubert, Bouvard und Pécuchet

(Erschienen 1881, Übersetzung von Erich Marx)

Ich bin begeistert von diesem enzyklopädischen Roman, der den Wissensstand des ausgehenden 19. Jahrhunderts traktiert, sowohl in den Natur- als auch den Geisteswissenschaften. Die beiden Schreiber Bouvard und Pécuchet (der eine in einem Handelshaus, der andere im Marineministerium) lernen sich kennen und entdecken gerührt und begeistert ihre Seelenverwandtschaft. Sie sind durchdrungen von einem unstillbaren, wenn auch ziellosen Wissensdurst, der sie immer weiter treibt auf der Suche nach der Antwort auf die Frage nach „dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ (wie es Douglas Adams ausdrückte). Nach einer Erbschaft Bouvards warten sie Pécuchets Pensionierung ab, dann erstehen sie einen Gutshof auf dem Land und geben sich hemmungslos dem Erwerb von Wissen hin. Sie betätigen sich als Landwirte, Archäologen, Historiker, Mediziner, Chemiker, studieren Literatur und gleichermaßen Philosophie, Religion und Spiritismus, werden Veterinäre und Pädagogen – die Aufzählung ist nicht vollständig.
Alle Lehrsätze unterwerfen sie einem Praxistest, an sich selbst, an Anderen, an Tieren und Pflanzen. In der Regel scheitert das Experiment, sei es die Zucht bestimmter Pflanzen und Obstsorten, die Herstellung von Konserven oder die (Um-)Erziehung zweier Kinder. Liegt das nun an den Lehrsätzen oder vielleicht doch an der Unfähigkeit „unserer Biedermänner“, die Wissenschaften richtig zu verstehen und anzuwenden? „Da sie unfähig waren, sie [hier: die Physiologie] zu verstehen, glaubten sie nicht daran.“ Geniale Dilettanten, die sie sind, halten sie sich mit methodischen Untersuchungen nicht lange auf, sondern wechseln zum nächsten Fachgebiet.
Dass die meisten ihrer Unternehmungen in Niederlagen und mit Verlusten enden und ihre Vermögen schwinden (zumal sie sich, gutmütig, unbeholfen und weltfremd, bei mehreren Gelegenheiten übers Ohr hauen lassen), ficht sie nur am Rande an, denn: „Ihr Verstand breitete sich aus. Sie waren stolz darauf, über so bedeutende Gegenstände nachzudenken.“

Flaubert säuselt dies alles in einem einzigartig federleichten Stil, dessen sanft ironischer Tonfall offen lässt, ob die Ironie den beiden Biedermännern gilt oder ihren wechselnden wissenschaftlichen Disziplinen oder deren verschiedenen Vertretern, die sich häufig direkt widersprechen und so ihre Adepten ratlos zurücklassen. „Es ist eben schwer, keinen Zweifel zu haben: So sind die Beweise für das Dasein Gottes von Descartes, Kant und Leibniz nicht die gleichen und heben sich gegenseitig auf. Die Erschaffung der Welt durch Atome oder durch einen Geist bleibt unbegreiflich. Ich fühle mich gleichzeitig als Materie und Geist und weiß dabei weder, was das eine noch was das andere ist. Die Undurchdringlichkeit, die Festigkeit, die Schwerkraft kommen mir ebenso mysteriös vor wie meine Seele, und wie viel unfasslicher ist erst die Einheit von Seele und Körper! (…) Und beide gestanden einander, dass sie die Philosophen satt hatten. So viele Systeme machen einen bloß konfus. Die Metaphysik ist zu gar nichts nütze. Man kann ohne sie leben.“ Ihre historischen Studien führen dazu, dass Bouvard und Pécuchet bald „über die Menschen und Tatsachen jener Zeit keine einzige feste Meinung mehr (hatten)“.
Geht es Flaubert um den Nachweis der Untauglichkeit der Wissenschaft für das alltägliche Leben? Mokiert er sich über die Einfältigkeit hinter der Wissenschaftsgläubigkeit? Was ist dieser Roman in Wirklichkeit: eine Farce, eine Satire, eine Komödie?
Über wen macht sich Flaubert hier eigentlich lustig? Oder ist das alles tragisch ernst gemeint?
„Auch bei anderen Gelegenheiten ließen Bouvard und Pécuchet ihre scheußlichen Paradoxe vom Stapel. Sie zogen die Ehrlichkeit der Menschen, die Keuschheit der Frauen, die Klugheit der Regierung, den gesunden Verstand des Volkes in Zweifel, kurzum, sie untergruben die Grundlagen.“ Ihnen wird mit Gefängnis gedroht, sie werden verleumdet. „Da entwickelte sich in ihrem Geist eine bedauerliche Fähigkeit: die Dummheit zu sehen und sie nicht ertragen zu können. Ganz belanglose Dinge machten sie traurig: die Reklame in den Zeitungen, das Profil eines Spießers, eine dumme Bemerkung, die sie zufällig gehört hatten. Wenn sie daran dachten, was man in ihrem Dorf sagte und dass es bis ans andere Ende der Welt nur andere Coulons, andere Marescots, andere Foureaus [Dorfbewohner] gäbe, dann fühlten sie das Gewicht des ganzen Erdballs auf sich lasten.“ (…) „Die Welt verlor für sie an Bedeutung; sie sahen sie wie durch einen Nebel, der in ihrem Gehirn entsprungen war und sich auf ihre Augen legte.“ (…) „- und die beiden Biedermänner empfanden nach all ihren Enttäuschungen das Bedürfnis, einfältig zu leben, etwas liebzuhaben und ihren Geist zur Ruhe kommen zu lassen.“

Dennoch bewahren sie sich bis zum Schluss ihr „Staunen“ über „die Erhabenheit der Schöpfung …, das ebenso grenzenlos war wie diese selbst.“ Obwohl, andererseits, „gar keine Schöpfung stattgefunden (hat). Sie ist immer dagewesen. Sonst wäre das ja ein neues Wesen, das zum göttlichen Denken hinzukäme, und das wäre Unsinn.“
Irgendwie läuft alles schief; sie verstehen nicht und sie werden nicht verstanden, was durchaus nachvollziehbar ist, so z. B. wenn sie vorschlagen, Familiennamen durch eine „Stammnummer“ zu ersetzen, oder ihr Plan zur Verschönerung des Heimatortes als Erstes den Abriss von drei Vierteln aller Häuser vorsieht.

Ein amüsantes, geistreiches Vexierbild, ein großartiger Roman. Lesen!

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Datum: Donnerstag, 6. Juni 2013 23:06
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