Haruki Murakami, 1Q84 (Buch 1, 2 und 3)

(Erschienen 2009/2010, Übersetzung von Ursula Gräfe)

„1Q84“ ist ein spannender, anregender phantastischer Roman, der den Leser in seinen Bann zieht und die Nächte verkürzt. Das vorneweg.

Irgendwann während der Lektüre schoss mir allerdings die Frage durch den Kopf, ob der Autor seinen Daumen am Puls der Zeit hat und ernsthaft die drängenden Probleme behandelt, und/oder ob es sich bei diesem Roman um ein geschickt arrangiertes Potpourri von Modethemen handelt, als da wären: das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaft, Massenkommunikation und Medien, Sex & Crime, Gewalt gegen Frauen, Missbrauch und Selbstjustiz, Religion und Esoterik, Single-Dasein, Selbstbestimmung, Fitness, Alternativbewegung, Killer, Geheimbünde, Verschwörungstheorien usw. usw.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass es sich hier um ein gelungenes Beispiel des globalisierten Romans handelt, der sein Publikum überall auf der Welt in den urbanen Ballungsräumen findet. Die Hauptpersonen sind nicht in einer lokalen Tradition verankert, sondern beziehen sich in ihrem Selbstverständnis auf eine wie auch immer geartete Weltkultur des Bildungsbürgertums. Da werden tschechische Komponisten ebenso selbstverständlich gehört wie C.G. Jung zitiert wird; antike und indische Mythen, Shakespeare, Tschechow und Proust gehören ebenso zum Inventar wie Marshall McLuhan; die weltweit missionierenden Zeugen Jehovas scheinen in Japan präsenter zu sein, als ich das jemals angenommen hätte, und werden zum Kristallisationspunkt der Auseinandersetzung mit Religion. Japanische Kulturgeschichte taucht zwar auch auf, aber nur als Einsprengsel unter vielen, als ein der Berücksichtigung wertes Element für die Zusammensetzung des eklektischen Weltbürgerbewusstseins wird die Geschichte von den Heike zitiert.

Setzt man andere Namen für die Personen und Orte ein, so kann dieser Roman in jeder Großstadt auf der Welt spielen.

Entsprechend sind die Hauptpersonen sozial vereinsamt, haben sich früh von ihren Familien losgesagt, definieren sich über ihr Expertentum und individuelle Eigenheiten, sind bar jeder gesellschaftspolitischen Perspektive und verzehren sich nach einer unhinterfragbaren, unendlichen Vereinigung mit einem anderen Sein – in der romantisch überhöhten Liebe, deren Verheißung sie in einem innigen Händedruck zweier Zehnjähriger erkannt zu haben vermeinen. „… „Ist es nicht eine wesentliche Aufgabe im Leben eines Menschen, über seinen Geist nachzudenken? Abgesehen davon, ob es einen praktischen Nutzen hat oder nicht?“ – „Mir bleibt die Liebe“, sagte Aomame kurz. (…) „Und es genügt, wenn man liebt?“, fragte er. – „So ist es.“ – Der Gegenstand der Liebe, von der Sie sprechen, ist eine bestimmte Person, nicht wahr?“ – „Ja“, sagte Aomame. „Ein bestimmter Mann.“ – „Die bedingungslose Liebe zu einem unzulänglichen und schwachen Körper…“, sagte der Mann ruhig. Er machte eine Pause. „Offenbar brauchen Sie keine Religion.“ – „Wahrscheinlich nicht.“ – „Weil Ihr eigenes Dasein sozusagen schon eine Religion ist.“…“

Der Roman spielt 1984. Einige wenige Personen rutschen aber auf undefinierte Weise in eine Parallelwelt „1Q84“, die zwei Monde besitzt und in der die „Little People“ in den immerwährenden Kampf zwischen Gut und Böse eingreifen. Wahrscheinlich zu ihren eigenen Gunsten, aber das bleibt ebenso offen wie das Woher und Wohin der Little People. Die Zeit des Romans und der Titel als Antithese zu Orwells „1984“ werden auch innerhalb der Romans thematisiert: „…’Big Brother’ ist seither das Sinnbild für eine totalitäre Gesellschaft schlechthin. Heute, im realen Jahr 1984, ist der große Bruder so berühmt, dass er zugleich transparent geworden ist. Würde er auftauchen, man würde mit Fingern auf ihn zeigen: ‚Achtung, aufgepasst! Big Brother!’ Mit anderen Worten, in unserer Welt gibt es keine Bühne mehr für einen Big Brother. Stattdessen treten nun Wesen wie die Little People auf den Plan. Ein hochinteressanter Kontrast in der Begrifflichkeit, finden Sie nicht?“ Doch, finde ich durchaus. Und eine etwas verwegene These, die sich darin verbirgt.

Im 13. Jahrhundert hat der Bildhauer Kosho in Japan eine Statue des Wanderpriesters Kuya hergestellt, der das „Nembutsu“ praktizierte und verbreitete. Dies besteht darin, die Formel für die Verehrung des Buddhas Amitabha beständig zu rezitieren, um in das Reine Land des Amitabha wiedergeboren zu werden. Bei der besagten Statue werden die sechs Silben der Formel (na-mu-a-mi-da-bu) durch sechs kleine Buddha-Figuren repräsentiert, die (aufgereiht auf einer Stange) aus Kuyas Mund kommen. Diese Statue (es gibt noch ähnliche) ist offiziell zum „Wichtigen Kulturgut Japans“ deklariert worden. Ich vermute, dass die Little People, die das Maul einer toten Ziege oder den Mund eines Leichnams als Durchgang nach 1Q84 benutzen, sich nicht wenig dieser Tradition verdanken. Aha, also doch, mag der aufmerksame Leser denken, da ist doch die Verwurzelung in der japanischen Tradition. Nun ja, zum Einen ist dies nur eine Vermutung meinerseits, zum Anderen, was macht Murakami damit? Traditionell wird von sechs, und auch von sieben Silben gesprochen (na-mu-a-mi-da-bu-tsu), und natürlich können die Little People auf Wunsch auch sieben werden, aber in Referenz zu, man höre und staune: „Schneewittchen und die sieben Zwerge“! Und warum müssen die Little People ausgerechnet an Coca Colas Santa Claus erinnern? „… „Hoho“, tönte einer dazwischen. „Hoho“, stimmten die übrigen sechs ein.“ (Wie überhaupt ein Hang zum Product Placement unangenehm auffällt: Toyota, Minolta, Marlboro, Cutty Sark, Seven Stars, Esso, Ray Ban, …). Was will uns der Autor damit sagen? Verulkt er hier selber eines der grundlegenden Motive seines Romans, nämlich die Sehnsucht nach einer überhistorischen, archaischen Autorität, die sich in dem prophetischen Stimmen-Hören des Sektenführers manifestiert?

1Q84 ist keineswegs ein reines Land, sondern eine Welt, in der die Vernunft außer Kraft gesetzt ist. In der die Gebärmutter einer Frau als Durchgang dient, der den Samen des Mannes in sich aufnimmt und auf unerklärliche Weise eine andere, weit entfernte Frau damit schwängert; in der zwei Monde am Himmel stehen; in der Telepathie und akustische Halluzinationen möglich sind – und Gott auf der Stadtautobahn im Stau steht: „Aomame dachte über ihren Gott nach. Da er keine eigene Gestalt hatte, konnte er zugleich jede Gestalt annehmen. Zu dem Bild, das sie sich machte, gehörte ein schnittiges Mercedes-Coupé. Ein brandneuer Wagen, frisch vom Händler. Und die elegante, nicht mehr ganz junge Dame, die ihm entstieg.“ Wie schön, dass es am Schluss so einfach ist, dieser Parallelwelt zu entfliehen – einfach denselben Weg zurück gehen.

So scheint es, dass der Autor die Mythen, Religionen und Literaturen der Welt durchforstet und sich verfügbar macht, wie es ihm in Kram passt. Eine Prise Lifestyle hinzu, ein paar mehr oder weniger sinnreiche Sprüche („Geben und Nehmen, das ist es, was die Welt am Laufen hält. Nicht Geld.“): Das sind die Zutaten für den Globalroman, der die aktuellen kulturellen und erkenntnistheoretischen Modethemen, mit polyglotter kulturhistorischer Unterfütterung versehen, anschaulich und schnittig für das großstädtische Bürgertum in aller Welt aufbereitet. Allerdings muss man das erstmal hinkriegen, und wie eingangs erwähnt, ist der Roman spannend und gut geschrieben. So ist Murakami z. B. ein Meister des treffenden Vergleichs, eine Herausforderung, an der viele andere Autoren scheitern. „Wie Fische, die in der Tiefsee leben, gelangten ihre Träume so gut wie nie an die Oberfläche. Und wenn es doch einmal geschah, dann hatten sie wegen des unterschiedlichen Wasserdrucks ihre Gestalt verloren.“

Es gelingt Murakami hervorragend, über Hunderte von Seiten einen Spannungsbogen aufzubauen, der den Leser in Atem hält. Allerdings zerstiebt dieser dann auf unbefriedigende Art und Weise und der Roman dümpelt unentschlossen dahin. Die Enttäuschung darüber schwingt gewiss in diesen Anmerkungen mit. Vielleicht hat Murakami zuviel auf einmal gewollt. Letzten Endes rekurriert er auf altbekannte Motive wie dem von den wenigen Auserwählten und dem Heilsbringer Liebe. (Man darf gespannt sein, ob es noch ein viertes Buch geben wird – mit der Hoffnung auf den zukünftigen Weltenretter.)

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Datum: Montag, 15. Juli 2013 22:51
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