Peter Kurzeck, Oktober und wer wir selbst sind

(Erschienen 2007)

Peter Kurzeck erzählt in einem verhaltenen Tonfall, der getragen ist von einer sanften Melancholie, darüber, dass es ihm an Zeit fehlt, um sich alles, was Einem in der Welt begegnet, merken, einprägen und aufschreiben zu können. Daher rührt vielleicht der einprägsame, suggestive Stil, der häufig das Verb vermeidet, dies bald jedoch gar nicht mehr vermissen lässt. Dieser Versuch indes, den Verlauf aus der Welt zu nehmen, muss im linearen Medium Literatur scheitern wie im Film, der letzten Endes aus einer Aneinanderreihung stehender Bilder resultiert. „Grau der Tag und wie er sich mit uns in den Schaufenstern spiegelt. Gern hätte ich von allen Tagen die Bilder aus diesen Fenstern.“

Kein Zufall, dass die resultierenden Aneinanderreihungen immer wieder des Wörtchens „Und“ bedürfen, das den Verlauf der Zeit wieder einführt. Folgerichtig kommt eine zweite, mitschwingende Klage des Autors hinzu, dass nämlich die Welt auch nicht die Zeit hat, darauf zu warten, bis er sie abgeschrieben hat. Hierbei gesteht er den Dingen der Welt in seinen Spekulationen über die Art und Weise ihrer Beziehungen untereinander und zu ihm selber ein Eigenleben zu, eine fast schon organische Dimension der Veränderung.

Was ihm, dem Autor, natürlich alle Möglichkeiten eröffnet, über die Standfestigkeit seiner und die Dinghaftigkeit der Welt insgesamt zu mutmaßen und fabulierend, manchmal stammelnd durch das Leben zu taumeln.

„Erst das Bild und dann vom Fenster aus nochmal die Straße. Ob alles noch da ist? (…) Der Gehsteig. Das Straßenpflaster unter den Lampen. Und dort die Stelle, wo der Eisbär steht, wenn er nachts Schnee ans Fenster wirft.“
„Von oben die Straße. Die Gesichter der Häuser. Das Licht in den Fenstern. Ob alles noch da ist? Ob man sich unten noch gehen sieht, dem Gehsteig wenigstens ansieht, dass wir noch eben da gingen? Und was übrig bleibt von der Welt, sobald wir im Haus sind.“
„Heimwege. Immer wieder den gleichen Weg. Müd heim am Abend. Und dann ist es so, dass auf Schritt und Tritt und mit jedem Ding dein Leben dich eindringlich ansieht. (…) Und dann siehst du, da zwischen den Regalen, da sitzt ja einer und liest. (…) Mitternacht schon vorbei. Er sitzt in der Stille hier bei der Lampe, als ob er längst schläft. Ganz woanders. In weiter Ferne. Schläft in der Ferne und träumt, dass er hier sitzt und liest. Träumt auch die Lampe mit.“
„War das auch heute? Einmal morgens vor der Haustür hast du fast von der letzten Nacht deinen Traum noch gewusst. Vielleicht ein anderer Tag, ein früheres Leben? Oder jeden Tag wieder? Du stehst, die Zeit ruckt, der Boden schwankt. Und dann endlich hast du dich eingeholt. Gegenwart. Aber wo bist du gewesen? Welchen Weg gekommen? Wo bin ich, wenn ich nicht bei mir bin?“
„Und jetzt muss gleich die Stelle kommen, von der ich nie sicher weiß, ob es sie wirklich gibt. Oder nur ausgedacht? Vor langer Zeit ganz woanders? Ein anderes Land? Eine fremde Stadt? Vielleicht im Vorbeigehen als Bild? Und jetzt ist es die Erinnerung an ein Bild, an das du dich nicht erinnerst? (…) Du grübelst, du suchst. Warum ist dir, du müsstest diese Stelle (falls es sie gibt) aus einem anderen Leben kennen? (…) Nicht da, nicht zu finden – hat also nie existiert? Und wenn es sie nicht gibt, ist vielleicht alles übrige auch nicht wahr? Dein Leben, die Welt, der gestrige Tag? Fiktiv? Eine Einbildung? Auch bloß geträumt? (…) Eine einfache Straßenecke, aber wenn du sie nicht findest, kannst du nicht heimgehen. Nicht heim und auch sonst nirgends hin. Kannst nie mehr in dein Leben zurück.“

„Als ob man das alles träumt. Oder hat es ein anderer anderswo schon vorher für uns geträumt?“

 

 

 

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Datum: Montag, 2. Oktober 2017 13:21
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