Isaac Bashevis Singer, Feinde, die Geschichte einer Liebe

(Erschienen 1972)

Was für ein seltsames, sperriges Buch, geradezu spröde in seiner Weigerung, unbegreifliche Verhaltensweisen seiner Protagonisten zu kommentieren. Da ist Herman Broder, ein polnischer Jude, der den Holocaust nur dank Yadwiga überlebt hat, dem ehemaligen Dienstmädchen seiner Eltern, die ihn drei Jahre lang auf einem Heuboden versteckt und versorgt hatte.

„Hermans ganze Familie war bei der Massenvernichtung ausgelöscht worden. (…) Nach der Befreiung 1945 hatte Herman von einem Augenzeugen erfahren, dass Tamara, seine Frau, erschossen worden war, nachdem man ihr die Kinder weggenommen hatte, um auch sie umzubringen.“
„Im Geist hatte Herman sich oft mit dem talmudischen Weisen Choni Hamagol verglichen, der nach der Legende siebzig Jahre lang schlief und bei seinem Erwachen die Welt so fremdartig fand, dass er betete, sterben zu dürfen.“

Herman und Yadwiga wandern nach New York aus und Herman hatte sie „standesamtlich zu seiner Frau gemacht. Yadwiga war bereit gewesen, den jüdischen Glauben anzunehmen, aber es schien ihm unsinnig, sie mit einer Religion zu belasten, deren Gesetze er selber nicht mehr befolgte.“
„So wie sie offen und ehrlich war, war er unaufrichtig und in Lügen verstrickt. (…) Seine Lebensführung war genauso bizarr wie alles andere, was ihm zugestoßen war. Er war Ghostwriter für einen Rabbi geworden. (…) Herman schreibt dem Rabbi die Bücher, die Artikel und die Vorträge.“
Ausgerechnet er, der seinen Glauben verloren hat, lebt von seiner „Kenntnis des Judaismus“. Die Geldnot ist chronisch. „Manchmal glaubte er, Bösewichter, Kobolde würden ihr Unwesen mit ihm treiben.“ Aber Herman trägt auch sein Scherflein zur allgemeinen Verwirrung bei, denn:  „Immer, wenn Herman vorgab, unterwegs zu sein und Bücher zu verkaufen, verbrachte er die Nächte bei Mascha in der Bronx. Er hatte in ihrer Wohnung ein Zimmer. Mascha hatte Jahre im Ghetto und in den Konzentrationslagern überlebt.“

Er trägt es mit Fassung, als seine tot geglaubte Frau Tamara sich plötzlich bei ihm meldet, die Frau, von der er sich abgewandt, und damit auch die beiden gemeinsamen Kinder, die es „nicht mehr gibt“, „im Stich gelassen“ hatte. Sie „war von den Toten auferstanden. (…) Sein metaphysischer Witzbold hatte ihm einen bösen Streich gespielt.“ Und Herman fügt sich den „höheren Gewalten“: „‘Ich will alle drei haben, das ist die beschämende Wahrheit‘, gab er vor sich selbst zu.“ Dankbarkeit für Yadwiga, Leidenschaft für Mascha, Verbundenheit für Tamara – seine disparaten Gefühle spalten sein Leben in drei und machen ihn „unfähig, Entscheidungen für sich selbst zu treffen“.

„Herman dachte an die jiddische Redewendung, dass zehn Feinde einem Menschen nicht so viel Schaden zufügen können wie er sich selber. Demnach wusste er, dass er das nicht alles von sich aus tat; immer war da sein verborgener Gegner, sein Dämon. Statt ihn mit einem Schlag zu vernichten, ersann sein Feind immer wieder neue und irreführende Qualen für ihn.“

„Aber im Grunde blieb er derselbe: ohne Glauben an sich selbst oder an die Gattung Mensch; ein fatalistischer Hedonist, der in präsuizidaler Schwermut lebte. Die Religionen logen. Die Philosophie war von Anfang an bankrott. Die leeren Versprechungen des Fortschritts waren nichts weiter als Spucke in das Gesicht der Märtyrer aller Generationen. Wenn Zeit nur eine Form der Wahrnehmung ist, oder eine Kategorie der Vernunft, dann ist die Vergangenheit ebenso gegenwärtig wie das Heute. Kain ermordet Abel weiterhin. Immer noch schlachtet Nebukadnezar die Söhne von Zedekiah und sticht Zedekiah die Augen aus. Das Pogrom in Kesheniev hört nie auf. Immerfort werden in Auschwitz Juden verbrannt. Diejenigen, die den Mut nicht haben, ihrer Existenz ein Ende zu machen, haben nur noch einen Ausweg: ihr Bewusstsein abzutöten, ihr Gedächtnis lahmzulegen, die letzte Spur von Hoffnung auszulöschen.“

„Es könnte sein, dass Leiden ein Attribut Gottes ist.“

Die traumatische Erfahrung der Verfolgung durch die Nazis und/oder die „Bolschewiken“ Stalins und das Schuldgefühl des Überlebenden lassen diese Menschen nicht mehr los, Tag und Nacht, im Schlafen und im Wachen. „Andere Flüchtlinge pflegten zu sagen, dass man mit der Zeit vergisst, aber weder Schifrah Puah [Maschas Mutter] noch Mascha würden je vergessen. Im Gegenteil, je weiter sie dem Brandopfer entrückt waren, umso näher schien es zu kommen. (…) Wenn sie von den Abscheulichkeiten der Deutschen sprach, lief sie zur Mesusa an der Tür und spuckte darauf. (…) Und ihre größte Sünde war es gewesen, am Leben zu bleiben, als so viele unschuldige Männer und Frauen den Märtyrertod starben.“
Im Sommer in der New Yorker U-Bahn: „So heiss war es nicht einmal im Sommer auf dem Heuboden gewesen. So mussten die Juden in den Güterwaggons eingepfercht gewesen sein, die sie zu den Gaskammern brachten.“
In der Küche: „Wie könne man am Leben bleiben, wenn man sich immerzu an alles erinnerte? Eben gerade, als sie am Herd stand, habe sie vor ihrem geistigen Auge ein junges jüdisches Mädchen gesehen, das auf einem Balken nackt über einer Jauchegrube balancieren musste. Rund um sie herum standen Gruppen von Deutschen, Ukrainern, Litauern, die Wetten darüber abschlossen, wie lange sie wohl dort würde stehen können. Sie schrien ihr und ihrem Volk Beleidigungen zu. Halb betrunken standen sie da und beobachteten sie, bis diese achtzehnjährige Schönheit, diese Tochter von Rabbinern und geachteten Juden, das Gleichgewicht verlor und in die Jauche fiel.“
Auf der Straße: „Während er einen Fuß vor den anderen setzte, suchte er die Straße nach möglichen Verstecken ab, für den Fall, dass die Nazis nach New York kämen. Ließ sich hier irgendwo ein Bunker bauen? Konnte er sich im Turm der katholischen Kirche verstecken? Er war nie Partisan gewesen, aber jetzt dachte er oft an Stellen, von denen aus man eine günstige Schussposition haben würde.“

Das derart ausgeweidete Leben verdichtet sich zu dem Empfinden, als lebende Tote über die Erde zu wandeln. „Ihm kam der Gedanke, dass so sich die Geister eben Verstorbener begegneten – immer noch die Worte der Lebenden benutzend, da sie die Sprache der Toten noch nicht kannten.“
„Meine Mutter, gesegnet sei ihr Andenken, hat mir einmal eine Geschichte über gestorbene Menschen erzählt, die nicht wissen, dass sie gestorben sind. Sie essen, trinken und heiraten sogar. Also, da wir einmal zusammen gelebt haben und zusammen Kinder hatten und jetzt in der Welt des Wahns herumirren, wozu brauchen wir da eine Scheidung?“

„Er saß da und versuchte, ein Resümee zu ziehen. Auf dem Heuboden hatte er die Illusion gehabt, dass ein grundlegender Wandel in der Welt stattfinden würde, aber nichts hatte sich verändert. Dieselbe Politik, dieselben Phrasen, dieselben falschen Versprechungen. Professoren schrieben weiterhin Bücher über die Ideologie des Mordes, die Soziologie der Folter, die Philosophie der Gewalttat, die Psychologie des Terrors. Ingenieure erfanden neue tödliche Waffen. Das Gerede über Kultur und Gerechtigkeit war ekelhafter als die Barbarei und Ungerechtigkeit. ‚Ich stecke bis zum Hals im Dreck und bin selber Dreck. Es gibt keinen Ausweg‘, murmelte Herman.“

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Datum: Montag, 24. September 2018 19:48
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