Michael Köhlmeier, Abendland

(Erschienen 2007)

Der Schriftsteller Sebastian Lukasser wird von seinem Patenonkel Carl Jacob Candoris, einem emeritierten Mathematikprofessor und sehr reichen Mann, kurz vor dessen Tod zu sich gerufen und gebeten, dessen Leben nachzuerzählen. Dies tut er, und eingebettet darin erzählt Lukasser seinem Patenonkel und dem Leser gleich auch noch seine eigene Geschichte und die seiner Familie, alles unterfüttert mit der (Kultur- und Geistes-)Geschichte des 20. Jahrhunderts auf 776 Seiten.
Candoris, Spross einer reichen österreichisch-ungarischen Kaufmannsfamilie und exzellenter Mathematiker, verkehrt mit der Creme de la Creme der mathematischen Zunft in Göttingen Anfang der 20er, lernt Edith Stein kennen (die erste katholische Märtyrerin jüdischer Abstammung, die heilig gesprochen wurde), verbringt als Assistent von Emmy Noether 1928/29 einige Zeit im stalinistischen Russland, tritt dann in das Handelshaus seiner Familie ein, wo er erfolgreich das Kontor in Lissabon leitet und an der Uni lehrt, wird vom britischen Secret Service als Spion gegen Nazideutschland angeworben, hat als österreichischer Staatsbürger Zugang zu dem Kreis der ersten Naturwissenschaftler der Nazis, verbringt ein paar kurze Monate in britischer Gefangenschaft in Australien und Kanada, bevor er von Robert Oppenheimer für das Manhattan-Projekt angeworben wird.
Unmittelbar nach der Kapitulation Japans ist Candoris im (konventionell) zerstörten Tokio und entdeckt und fördert dort ein einzigartiges mathematisches Genie, das sich allerdings 1961 vor laufenden Nachrichtenkameras die Pulsadern aufschneidet.
Das andere Genie, dessen sich Candoris als Mäzen annimmt, ist Sebastian Lukassers Vater Georg, ein begnadeter Gitarrist, den er 1946 in Wien hört, dessen Ehe er mitstiftet und für dessen Familie er Schutzengel wird. Lukasser sen., der in Wien und New York legendäre Aufnahmen aufnimmt, mit Chet Baker ein Jahr durch die USA tourt und in einem österreichischen Bergdorf avantgardistsiche Klangexperimente im Gefolge von Harry Partchs mikrotonaler Musik durchführt, bleibt aber leider ein verkanntes Genie, das sein Leben lang gegen den Suff ankämpfen muss und sich schließlich 1976 das Leben nimmt. Als Mäzen war Candoris also nicht besonders erfolgreich.
Lukasser jun. steuert seine Zeiten in Wien, Innsbruck, Frankfurt, Lissabon, New York und North Dakota ebenso bei wie seine Erfahrungen mit Frauen, seine gescheiterte Ehe und seine wenig rühmliche Rolle als Vater – vielleicht als Gegenpart gedacht zum großen Candoris, trotz erfolgreicher Autorenexistenz (über 22 Bücher, von Artikeln, Essays usw. abgesehen).
„Abendland“ ist ein kluges Buch, in einem geschmeidigen, süffigen Stil geschrieben, und man liest gerne die vielen großen und kleinen Episoden, die hier entlang der Familiengeschichte der Candoris‘ und Lukassers aufgereiht werden. Der Leser erfährt Geschichten aus dem Leben der mathematisch-naturwissenschaftlichen Genies des 20. Jahrhunderts und erhält einen Überblick über die Entwicklung des Blues und Jazz in den USA, eingestreut werden Episoden und kluge Bemerkungen über die Oper ebenso wie über Primzahlen, Boxer, das Erinnern, Hunde, Metaphern, den Konjunktiv, das futurum exactum, usw.usw.
Manchmal allerdings ist es zuviel des Guten – muss denn Lukasser sen. wirklich Woody Guthrie „wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sehen“, muss denn Candoris tatsächlich Winston Churchill seine Einschätzung des Stands der Atombombenentwicklung  Nazi-Deutschlands persönlich vortragen, und muss zu den Gästen bei diesem privaten Empfang auch Charlie Chaplin gehören? Und was soll uns die letzte, angehängt wirkende Geschichte über Candoris‘ Großonkel in Deutsch-Südwestafrika sagen, der als zehnfacher Mörder verurteilt wurde? Dass der Autor auch über den Herero-Aufstand von 1904 einige Seiten füllen kann?
Der Autor wuchert mit seinen Pfunden, und manchmal kommt die Präsentation seines allumfassenden Wissens einem name-dropping gefährlich nahe, um – wie der Leser irritiert argwöhnt – die Bedeutsamkeit des Erzählten aufzuwerten. Dabei wäre dies gar nicht nötig, weniger wäre in diesem Falle mehr.
Wie gesagt, ein kluges, gut geschriebenes und unterhaltsames Buch, dessen Lektüre dem Leser viele Zusammenhänge erhellt oder diese erst herstellt, dessen Vielzahl an Anekdoten, Geschichten und Analysen aber etwas gewaltsam unter das Konstruktionsprinzip zweier sich kreuzender Familiengeschichten gezwungen scheint.

Tags » «

Autor:
Datum: Sonntag, 30. März 2008 23:57
Trackback: Trackback-URL Themengebiet: Lesen

Feed zum Beitrag: RSS 2.0 Diesen Beitrag kommentieren

Ein Kommentar

  1. 1

    Naja, ich habe es nicht zu Ende gelesen. Für mich war es belanglos, „nett“, so etwas wie anspruchsvollere Kaufhausmusik. Klar waren hin und wieder interessantere Episoden und Charaktere darin, aber dazwischen schleppt sich die Geschichte so dahin. Ich kann es leichten Herzens weitergeben.

Kommentar abgeben